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Politische Kommunikation im Krieg: Wie Selenskyi zur Identifikationsfigur wurde

02.03.2022, Gastbeitrag von Philipp Sälhoff, Geschäftsführer von polisphere

Der Angriff Putins auf die unabhängige Ukraine hat die Welt schockiert. Auch wenn zahlreiche Experten vor diesem Szenario gewarnt hatten, hielt sich lange auch bei vielen politischen Entscheidern die Hoffnung, dass der russische Präsident auf eine solch heftige Vorgehensweise gegen den Nachbarstaat verzichtet. Dieser Krieg findet nicht nur in unserer Nähe auf dem europäischen Kontinent statt, sondern wird – wie schon die Kriege in Syrien und dem Irak –bestens dokumentiert. Bombenabwürfe und Raketenangriffe; Tote, Verletzte und in Gefangenschaft geratene Soldaten; Plünderungen und diverse Formen der Kriegsverbrechen – viele Ereignisse werden von Privatpersonen gefilmt und online gestellt. Und auch die Propaganda- bzw. PR-Maschinerie beider Seiten läuft auf Hochtouren. Während sich der russische Despot als unnahbarer, aggressiver Hardliner präsentiert, zeigt sich der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj aus meiner Sicht hochmotiviert, sein Land zu verteidigen, volksnah im Umgang mit Kameraden und professionell im Umgang mit der Weltgemeinschaft auf allen Ebenen. Ob Pressekonferenzen bei Instagram und YouTube, Ansprachen vor EU-Institutionen oder Social Media-Stories mit Regierungsmitgliedern und Kameraden – dieser Mann ist zum Symbol des massiven Widerstands gegen die russischen (und mittlerweile auch belarussischen) Besatzer geworden. Doch wie hat er das kommunkativ konkret gemacht? Dazu ein Gastbeitrag von Philipp Sälhoff, Geschäftsführer des Politik-Netzwerks polisphere:

Der Krieg in der Ukraine markiert eine Zäsur. Nicht nur geopolitisch, auch kommunikativ erleben wir eine neue Qualität von (Des)Informationsstrategien, Tools und Narrativen. Eines der vielen Kommunikationsphänomene dieses Krieges ist die teils schon popkulturelle Ikonographie und Rezeption des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskyj. 

Innerhalb kürzester Zeit wurde der 44-Jährige zur Projektionsfläche – nicht nur für die Ukrainer, sondern auch für Menschen aus der ganzen Welt, die im Politikbetrieb oft authentische Identifikationsfiguren vermissen. 

Nach der beeindruckenden Rede auf der MSC folgte eine, die zwar etwas "schwächer" bewertet wurde, (was angesichts der gerade geschehenen Invasion einer Atommacht in sein Land vielleicht in Relation zu setzen ist), danach zeigte er aber durchgehend sehr klare und überzeugende Rhetorik und Symbolik, die offenbar ihre Wirkung nicht verfehlt hat. Sowohl ukrainische Streitkräfte als auch Zivilbevölkerung legen eine beeindrucke Moral an den Tag. Die Zustimmungswerte des Präsidenten lagen nach einer Umfrage eines ukrainischen Instituts bei 94 %.

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Zentral dabei seine unmittelbare, teils lakonische Social-Media-Kommunikation. Schon jetzt ist sein Tweet legendär, in dem er dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi versichert, beim nächsten Mal den Krieg entsprechend des Kalenders des Italieners zu legen, weil er einen Call nicht einrichten konnte. Selenskyjs direkte Sprache, die tiefe Stimme (Seitennotiz: Er war der ukrainische Synchronsprecher der Kinderfilmfigur „Paddington“), das relativ junge Alter – das alles wirkt gerade in Kontrast zu Putin noch mal stärker. Außerdem gewann Selenskyj die ukrainische Version des „Let’s Dance“-Formats. Es zeichnet das Bild eines alten "Goliaths“ in goldenem Palast, der seine Zeit eigentlich schon hinter sich hat gegen den jungen "David" mit nächtlichem Selfie-Video, während ein paar Kilometer weiter die russische Übermacht auf seine Tötung oder Festnahme wartet.

Er ist nicht der erste Schauspieler bzw. Comedian, der erfolgreich in die Politik ging. Ronald Reagan und Arnold Schwarzenegger sind da nur die bekanntesten Beispiele. Auch Beppe Grillo hat es in Italien mit der Fünf-Sterne-Bewegung zu (zweifelhaftem) Ruhm gebracht.

Selenskyj beweist aber in einer neuen Qualität, dass dramaturgisches Gespür elementar in der Aufmerksamkeitsökonomie sind, welcher die Politik nun mal auch in Kriegszeiten unterliegt. Sätze wie „I need ammunition, not a ride“ wirken wie aus Hollywood-Action-Blockbustern entlehnt und in dem schrecklichen Kontext dennoch glaubwürdig. Die Bilder mit Soldaten an der Front gehören zwar zum Standardrepertoire in solchen Situationen, aber auch darüber hinaus ist sein Auftreten – ob es die Selfies mit seinem Verteidigungsminister, die Unterschrift des Antrags auf EU-Mitgliedschaft vor Sandsäcken oder seine Reden im Army-Shirt sind. zu kommt die von im vermittelte bedingungslose Opferbereitschaft für die Freiheit der Ukraine. Selenskyjs Kommunikation ist fast idealtypisch für ein Leadership-Profil in Krisenzeiten.

Selenskyj wird hoffentlich Gelegenheit haben, dieses neue Profil auch in Friedenszeiten zu zeigen. 

Titelfoto:  Lizenzfreies Symbolbild

Foto Selenskyj: Illia Ponomarenko / Twitter

Philipp Sälhoff ist seit 2018 Geschäftsführer des polisphere-Netzwerks in Berlin. Von 2012 bis 2014 war er als Berater für digitale Kommunikations- und Beteiligungsprozesse bei der Strategie- und Politikberatung IFOK tätig. Anschließend hat er bis 2018 Team, Projektbetrieb und insbesondere das internationale Netzwerk des Think Tanks Das Progressive Zentrum mitaufgebaut. Mehr Infos unter www.polisphere.eu

 

 

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